FIQ Possiblement-0Y9B1594 Credit Hassan Hajjaj

FIQ Possiblement © Hassan Hajjaj

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"Jedes Stück ist eine neue, eigene Kreation."

Ruhrfestspiele 2022: Was macht den Neuen Zirkus aus?

Lilja Kopka und Anna Fentrop sind bei den Ruhrfestspielen 2022 für den Programmbereich Neuer Zirkus verantwortlich. Im Interview erzählen sie uns von den Besonderheiten des Zeitgenössischen Zirkus, davon, was sie an dieser Kunstform so fasziniert und geben uns zudem einen kleinen Einblick in die diesjährige Programmauswahl.

Namen:

Lilja Kopka und Anna Fentrop

Alter:

34 und 38

Geburtsort / Wohnort:

Unna/ Recklinghausen und Hagen / Recklinghausen

Beruf:

Mitarbeiterin Programm und Produktion bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen

Links:

Wie bereits in den vergangenen Jahren ist der Zeitgenössische Zirkus auch in diesem Jahr fester Bestandteil des Programms der Ruhrfestspiele. Die meisten Menschen werden bei Zirkus an Akrobatik, Clownerie und Tierdressur in einer Manege denken – was unterscheidet den Zeitgenössischen Zirkus davon?

Der Zeitgenössische Zirkus ist eine darstellende Kunst, die die Akrobatik als Ausdrucksform nutzt, aber immer ein inhaltliches, ästhetisches und dramaturgisches Gesamtkonzept zugrunde legt. Er geht über das Spektakel artistischer Höchstleistungen hinaus, bricht mit der festgelegten Abfolge von Nummern und Stereotypen wie den klassischen Clown-Charakteren oder der Zirkusprinzessin auf dem Drahtseil, wie wir sie aus dem klassischen Zirkus oder Varieté kennen. Oft verbindet sich die Artistik mit Musik, Tanz, Schauspiel oder Bildender Kunst zu einem interdisziplinären Gesamtkunstwerk.

Welche Rolle spielt der Zeitgenössische Zirkus bei den Ruhrfestspielen und was hat er mit Theater zu tun?

Die Ruhrfestspiele sind von jeher ein Festival, das innovative Formate zeigt, ohne dabei ein breites Publikum aus den Augen zu verlieren, dazu passt der Neue Zirkus sehr gut, weil er ein im positivsten Sinne niederschwelliges Angebot ist. Schon in den 80er Jahren gastierten hier große Produktionen des Neuen Zirkus und gehören seitdem zum Programm. Olaf Kröck hat den Neuen Zirkus mit Beginn seiner Intendanz 2019 als eigenständiges Genre fest in der Programmplanung etabliert und als wichtige Säule neben den anderen Sparten aufgewertet. Es ist wichtig, dass der Neue Zirkus als eigenständige Bühnenkunst anerkannt ist, genauso wie Tanz, Schauspiel, etc. Er findet zwar - auch bei uns im Festival - auch in Zelten statt, erobert aber genauso ganz klassische Bühnenräume und auch unkonventionelle Orte und bräuchte einfach allgemein viel mehr Präsentationsorte.

Was fasziniert euch persönlich an dieser neuen Kunstform?

Die Vielfalt und der Facettenreichtum auf so vielen Ebenen: in der schon erwähnten Interdisziplinarität, in der Internationalität – die meisten Künstler*innen und Compagnien arbeiten sehr international, die Stücke entstehen oft im Kollektiv – und in den einzelnen Disziplinen - von Jonglage, Objektmanipulation bis hin zu Luftartistik und Clownerie. Und dann gibt es natürlich auch noch sehr viele unterschiedliche Ästhetiken. Jedes Stück ist eine neue, eigene Kreation, keine Inszenierung. Und neben dieser unerschöpflichen Vielfalt faszinieren natürlich trotzdem noch die körperlichen, akrobatischen Leistungen der Künstler*innen.

Wird der Neue Zirkus den traditionellen Zirkus ablösen oder steht er für sich als eigene Kunstform?

Genau wie klassisches Ballett auch nicht durch den modernen Tanz verschwunden ist, hat beides seine Berechtigung und kann nebeneinander existieren. Der Neue Zirkus grenzt sich zwar vom traditionellen Zirkus ab, will ihn aber nicht abwerten, es sind zwei einfach unterschiedliche Kunstformen.

Welches Stück Zeitgenössischen Zirkus könnt ihr Neueinsteiger*innen der Szene bei den diesjährigen Ruhrfestspielen besonders empfehlen?

Viele Stücke des Neuen Zirkus sind sehr niederschwellig, auch dadurch, dass die Sprache häufig nicht so im Vordergrund steht und Akrobatik sehr affektiv und direkt auf die Zuschauer*innen wirkt. Der Neue Zirkus schließt niemanden aus, erfordert kein vorheriges Einlesen. Die „Groupe Acrobatique de Tanger“ hat mit „FIQ!“ eine sehr lebensfrohe Ode an die marokkanische Jugend erschaffen, die persönliche Geschichten mit atemberaubender Akrobatik kombiniert. „Absurd Hero“ erzählt mit sehr feinem Humor Geschichten vom Scheitern, bei denen sich sicher viele Zuschauer*innen mit dem charismatischen Antihelden identifizieren können. Wer gerne Tanzstücke schaut, sollte „Circular Vertigo“ nicht verpassen, das an der Schnittstelle zwischen zeitgenössischem Zirkus und Tanz arbeitet, ein atemberaubendes Duett zwischen einer Tänzerin und einem 100 kg schweren Pauschenpferd. Die mexikanische Clownin Gabriela Muñoz feiert bei uns Weltpremiere ihres Stückes „Julieta“, eine wahnsinnig komische, aber auch sehr berührende Geschichte über das Älterwerden. Auch im Querschnitt unseres Programms des Neuen Zirkus kann man die Vielfalt und Bandbreite dieses Genres sehen.

Wie seht ihr die Zukunft des Zeitgenössischen Zirkus in Deutschland und ganz spezifisch im Ruhrgebiet?

Der Neue Zirkus entwickelt sich in ganz Deutschland und auch im Ruhrgebiet gerade rasant. Die Szene in NRW ist sehr lebendig und es gibt viele Akteur*innen die Neuen Zirkus präsentieren und produzieren. 2020 gründeten einige dieser Akteur*innen, u.a. auch die Ruhrfestspiele, das „Bündnis Neuer Zirkus Ruhr“, um sich weiter zu vernetzen und gemeinsam an verbesserten Bedingungen und der weiteren Anerkennung und Etablierung dieser Sparte zu arbeiten. Gerade das vielfältige Ruhrgebiet bündelt schon viele Ressourcen und hätte durch entsprechende Förderungen das Potential zu einem einzigartigen Standort für Neuen Zirkus zu werden.